«Es ist äh… Gewalt, es ist digitale Gewalt»

«Es ist äh… Gewalt, es ist digitale Gewalt»

Wie Jolanda Spiess-Hegglin, die Kämpferin gegen Hass im Internet, im Internet Hass gesät hat und die Existenz einer Journalistin vernichten wollte – #hateleaks Teil 1.

Es war ein Shitstorm der gröberen Sorte, der ab Mai 2020 über die Journalistin Michèle Binswanger hereinbrach. Der Auslöser war ein Text in der «Aargauer Zeitung» mit dem Titel «Ein 'privates Racheprojekt?' Aufruhr um geplantes Buch zu Jolanda Spiess-Hegglin».

In den Sozialen Medien wurde die Autorin daraufhin von einem Mob verbal attackiert, verleumdet, verhöhnt, ja gar bedroht. Häufig anonym und unter Zuhilfenahme aller Mediengattungen: Text, Bild, Video. Prominente Politikerinnen und Politiker sprachen sich gegen das Buch aus. Die Grünen-Fraktionschefin Aline Trede schrieb auf Facebook: «Stoppt dieses Scheissbuch». SP-Co-Präsident Cedric Wermuth schrieb: «Als ich zum ersten Mal von dem Buch las, dachte ich zuerst 'Pressefreiheit und so'. Dann nochmal nachgedacht. Das ist kein ‘normaler Fall’.» Dazu retweetete er einen Tweet von Spiess-Hegglin, in dem diese schrieb, sie, ihr Mann und ihre Kinder wünschten sich, dass «diese verdammte Scheisse» endlich aufhöre.

Die «Scheisse» ergoss sich dann aber erstmal über die Autorin des unvollendeten Buchs. Sie wurde als miese Journalistin diskreditiert, Branchen-Kollegen schrieben gegen ihr Buchvorhaben an – auch wenn niemand wusste, was darin eigentlich stehen würde. Leserinnen und Leser wandten sich in Tweets, Mails und Briefen an Binswangers Arbeitgeberin mit der Aufforderung, sie zu stoppen. Eine kurze Weile trendeten sogar Hashtags wie «#Stopittamedia» und «#haltdiefressetamedia» auf Twitter. 

Alles sah so aus, als handle es sich um einen spontanen Ausbruch des Volkszorns gegen ein umstrittenes Projekt. Und die Verantwortlichen sowie die Zuschauer auf den Rängen begannen sich zu fragen, ob die Journalistin mit ihrem Vorhaben eventuell tatsächlich zu weit gegangen war.

Doch es war anders. Neue Dokumente zeigen: Der Shitstorm war kein spontanes Aufbegehren. Sondern eine perfid inszenierte Kampagne. Nicht nur gegen eine Journalistin. Sondern auch gegen die Idee der Pressefreiheit.

Geköpfte Journalistin – I like

Beginnen wir mit dem Ende der Geschichte: Während fast zwei Jahren blockiert, erschien Binswangers Buch trotz allem Ende Januar 2023. Genau eine Woche später lancierten Jolanda Spiess-Hegglin und Hans-Jürgen «Hansi» Voigt den Podcast «Drachentoeten». Der Journalist Voigt amtiert bei Spiess-Hegglins Verein NetzCourage als Präsident, sie als Geschäftsführerin.

Der dreiteilige Podcast ist ein über weite  Strecken improvisierter und fahriger Dialog zwischen Spiess-Hegglin und Voigt über… Ja, was eigentlich? Es wird nicht klar. Zu irrlichternd ist das ganze Gespräch. Bei einer Passage im dritten Teil hingegen lohnt es sich genauer hinzuhören: «Es ist Gewalt, es ist digitale Gewalt.»

Die Rede ist vom oben beschriebenen Shitstorm, der sich über Monate hinzog. Die Kampagne gegen die Journalistin nahm mit der Zeit sogar Fahrt auf und gipfelte in einer Fotomontage, einem Meme, auf Twitter veröffentlicht im Umfeld der Berner Reitschule. Es zeigt einen Henker zur Zeit der Grande Terreur um 1793 nach einer Enthauptung. An seiner ausgestreckten Hand hält er den ins Bild montierten abgeschlagenen Kopf der Journalistin der johlenden Menge hin. Spiess-Hegglin hat den Tweet mit diesen Bild geliket, auch wenn sie sich später nach Kritik halbherzig davon distanzierte.

Tatsächlich. So könnte digitale Gewalt aussehen. Voigt sieht das ähnlich und ergänzt im PodCast: «Als neuer Präsident (lacht) von NetzCourage müsste ich eigentlich sagen (lacht), NetzCourage hätte Michèle Binswanger vor zwei Jahre zur Hilfe kommen müssen.»

Selbstkritisch beschreibt Spiess-Hegglin im Podcast ihre Rolle im Shitstorm gegen Binswanger so: «Wo bekannt geworden ist, dass das Buch […] publiziert werden soll,[…] aufs Mal haben da ganze Armeen mobil gemacht und […] haben gepoltert und […] geschlagen und sind quasi in virtuellen Krieg gezogen. […]  Es wird die kleine Drecksarbeit […] gemacht. […] Aber in dem Moment versteht man es vielleicht […] nicht und ist selber ein bisschen blind und eben froh, wird es gemacht. Aber eigentlich müsste man jetzt sagen: Stopp! Das geht nicht.» (Voigt: «Mhm»)

Spiess-Hegglins Schicksal war gemäss ihren Aussagen das einer passiven Zuschauerin, die mitansehen musste, wie im Circus Maximus der Sozialen Medien eine Frau von wilden Bestien zerfleischt wurde. Ihr Fehler: Sie verharrte im Pop-Corn-Modus, als sie schon längst hätte «Stopp!» rufen müssen. Fehlende Geistesgegenwart. Wer kennt das nicht?

Nur: Diese Darstellung ihrer selbst korrespondiert in keiner Weise mit der Faktenlage. Spiess-Hegglin war keine Zuschauerin. Sie war die Scharfmacherin.

Sowohl Jolanda Spiess-Hegglin wie auch Hans-Jürgen Voigt wurde Gelegenheit gegeben, sich zu den hier beschriebenen Vorgängen zu äussern. Sie haben beide darauf verzichtet.

Spiess-Hegglins Hass-Chat

Am Dienstag, den 28. April 2020 eröffnete Spiess-Hegglin um 11.15 Uhr unter dem Hashtag #wasistlosMichèle einen Facebook-Chat und trat damit selbst genau jene Welle des Hasses los, von der sie im Podcast spricht. Spiess-Hegglin: «Jetzt hab ichs doch geschafft. Sali zäme! Hier können wir alles [...] künftig besser koordinieren. Ich werd jetzt noch ein paar Frauen dazuholen.»

 

Ihr Trigger: «Michèle Binswanger (Tagesanzeiger) will ein Buch über die „Zuger Sexaffäre“ (sic!) schreiben.» Die NetzCourage-Chefin will das um jeden Preis verhindern. Dies soll mit einer gezielten Diffamierungskampagne erreicht werden: «Wenn wir ihr ihre gemachten Fehler und ihre Absicht jetzt auf Social Media so richtig um die Ohren hauen, kann es uns daher gelingen, das Buchvorhaben im Keim zu ersticken. Ich danke euch herzlich für eure Unterstützung.»

Bei wem bedankt sie sich im Voraus? Eingeladen zum Chat sind mehr als 20 Mitstreiterinnen, ausschliesslich Frauen: Bloggerinnen, Journalistinnen, Nationalrätinnen, Netz-Aktivistinnen, Expertinnen für Gewalt gegen Frauen. Die Teilnehmerinnen sollten im Verlauf der nächsten zwei Jahre rund zweitausend Messages austauschen, in denen sie über die geeignetsten und effektivsten Methoden und Massnahmen diskutieren, um der Reputation der Journalistin Binswanger grösstmöglichen Schaden zuzufügen. 

Spiess-Hegglins Ziel ist dabei so klar wie radikal, nämlich die Vernichtung der beruflichen Existenz Binswangers: «Unser Ziel muss sein, dass sie als Journalistin auswandern kann». 

 

Das gesamte Protokoll des oben erwähnten Chats liegt der Redaktion vor. Es ist ein einzigartiges Dokument, das die Grundlage zu einer mehrteiligen Serie von Beiträgen bildet. Aber nicht nur das. Die Redaktion ist ausserdem im Besitz eines zweiten Chats, Dutzenden von Dokumenten, Mails, Screenshots und Audio-Aufnahmen, die ein Schlaglicht auf die internen Vorgänge bei NetzCourage werfen. Auch diese Quellen wurden verwertet. Wir nennen die Beitragsserie #hateleaks. 

Die #hateleaks benennen die Protagonistinnen, die Strippenzieher im Hintergrund, die Mitläufer und Handlanger und zeigen deren Methoden. Sie zeigen auch, wie die NetzCourage-Gründerin und ihre Entourage Medien und Medienschaffende instrumentalisierten, um die Journalistin Michèle Binswanger zu diskreditieren, die eigene Opferrolle zu zementieren und den Verein NetzCourage sowie die Handlungen der Geschäftsführerin schönzuschreiben. 

Die #hateleaks entlarven die Heuchelei der oben zitierten Aussagen im Podcast Drachentoeten. Spiess-Hegglin hat nicht nur nicht «Stopp» gesagt. Sie hat den Shitstorm gegen Binswanger angezettelt und am Leben erhalten. Die Geschäftsführerin des Vereins gegen Hass im Internet hat im Internet Hass gesät. Hass gegen eine kritische Journalistin, die sich vor keinen Karren spannen lässt.

Insofern hat die Hochschule St. Gallen bei der Wahl von Jolanda Spiess-Hegglin als Referentin zum Thema «Digitale Gewalt – wie wir als Gesellschaft auf dieses neue Phänomen reagieren» (9. bis 12. Mai) eine sichere Hand gehabt. Vermutlich gibt es in der Schweiz tatsächlich keine erfahrenere Expertin zu diesem Thema.

Stay tuned! In Kürze auf diesem Kanal Teil 2 der #hateleaks: Der Hass-Mob – die Mitglieder der Chat-Gruppe. Wer sie sind und was sie antreibt.

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23 Kommentare

Ich finde auch, dass Sie sich dies alles nicht gefallen lassen müssen. Sie haben überlegt und faktenbasiert sich als Journalistin äusserst kompetent geäussert und zwar nicht in einem einfach Tweet, sondern mit viel Arbeit in einem Buch. Das ist auch der Anspruch, denn die Öffentlichkeit haben darf und noch mehr müsste das für Personen gelten, die in der Legislative wirken. Danke für Ihr Dagegenhalten und ja, nicht nur Männer sehen das so, sondern auch deren Frauen…

Daniel Conca

Okay die negativen kommentare hier sind GANZ KLAR von leiten aus der chatgruppe gepostet das ist so offensichtlich

max franrich

In den Kommentaren wird geschrieben, dass man nun ‘aufhören soll’. Freilich für mich ist das Berichtete eine neue Dimension, die ich mir von all den Chat-Teilnehmern nie hätte träumen lassen. Ich fände es falsch, diese schrecklichen Vorgänge dem Frieden zu liebe einfach unter den Teppich zu kehren. Für den Teil 1 und den Teil 2 fehlen mir schlicht weg noch die Worte. Was widerfährt unserem Land, wenn es diese Clique einmal an die Spitze des Staats schaffen sollte.

Gerhard Weinhold

Wieso wurde der Kontext bei der Fotomontage weggelassen? Dieser ist nämlich durchaus relevant, das Bild wurde mit dem sinngemässen Text ‘wie Michèle Binswanger sich sieht’ veröffentlicht. Es wurde jedenfalls nicht dazu aufgerufen die Journalistin zu köpfen, was hier insinuiert wird.

Ric Steen

Ich war an der Buchpräsentation und konnte mir ein Bild machen. Mich hat Frau Binswanger überzeugt.

Schmid

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